Ein meterhohe Nadelbaum. Geschmückt mit einem Sammelsurium aus bunten Kugeln, leicht verkratzen Zapfen und einzelnen CDs für den stroboskopischen Effekt.
Hier und da hängt ein Fitzelchen Lametta herunter, ganz unten selbstgebastelte Herzen, denn dort kommen die Kinder besser ran.
Ein scheinbar ganz weihnachtsalltäglicher, wenn auch etwas wild geschmückter Tannenbaum, der in jedem Zuhause im Mittelpunkt der (Vor-)Weihnachtszeit stehen könnte, oder?
Aber dieser Weihnachtsbaum ist etwas Besonderes. Denn er steht am Meer. Und geschmückt wird er nicht nur von Mutti, Mia-Sophie und Oppa (der jedes Jahr an der Lichterkette verzweifelt und sich die echten Kerzen von früher zurückwünscht), sondern von federlosen Strandläuferinnen und Strandläufern, die mit einem Weihnachtsbaumschmuck in der Tasche an diesen Strand kommen.
Als mir meine Mama das erste Mal von einem Weihnachtsbaum am Meer erzählt, bin ich kurz davor, das gute Fläschchen Eierlikör vor uns zurück in den Kühlschrank zu stellen.
Von einem geschmückten Weihnachtsbaum an der See habe ich noch nie gehört. Es gibt Windflüchter hinter den Dünen – kleine Kiefern, die vom Meereswind krumm und schief gepustet werden, ja, aber ein meterhoher Tannenbaum? Direkt an der Brandung? Auf jeden Fall gab es den nicht, als wir noch auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst gewohnt haben. Vielleicht meint sie ja sowas wie Tannenbaumverbrennen? Um die Geister vergangener Weihnachten zu vertreiben? Aber nein. Da soll wahrhaftig ein Weihnachtsbaum mittenmang am Strand von Dierhagen-Strand stehen und wenn ich das nicht glaube, würde sie mich schnappen und selbst dorthin kutschieren. Und die Kamera solle ich mit einpacken.
Wer schon mal in Dierhagen-Strand am Strand war, kennt die Strandpromenade mit den kleinen Büdchen links und rechts, bestehend aus Eis, Pommes, Souvenirs und Fischbrötchen. Auf dem Höhepunkt kommt noch die große Plattform, bevor es zum Strand heruntergeht. Gefühlt war das schon immer so und vielleicht seid ihr wie ich in den 90ern dort oben mit Fransenshirt und Neon-Sonnenbrille in einem scharfen Mini-Elektroflitzer rumgecruist. Oder habt zu Pitti Platsch auf der kleinen Waldbühne geklatscht. Das waren noch Zeiten. Ich schüttele mein Pudelmützen-Haupt, um die Bilder meiner wilden Kindertage aus dem Kopf zu kriegen, als ich oben auf der Plattform ankomme und die Spitze eines riesigen Nadelholzgewächses erspähe…
Meine Neugier ist geweckt und ich laufe die letzten paar Meter zum Strandübergang, als mich die jahrmarktähnliche Erinnerung längst vergangener Sommer wieder einholt: Unten am Strand wimmelt es nur so vor weihnachtlich geschmückten Menschen. Schien die 10 km entfernte Ribnitzer Innenstadt eben noch verlassen und von einer (schein)heiligen Winterruhe ergriffen, ist auf dem sonst so nebensaisonlichen Strand vor mir plötzlich Bamboule und Remmidemmi ausgebrochen.
Hier steppt also der Eisbär, denke ich und entdecke neben kleinen Schneerollen (Kinder, die im letzten Schnee die Dünen runterollen) sogar ein paar festliche Ponys, die noch mehr Kinderaugen zum Leuchten bringen. Und mittenmang, am Strandaufgang 15 steht er tatsächlich: Der Weihnachtsbaum am Meer. Und er ist riesig! Wahrscheinlich 15 bis 20 Meter hoch. Um den Baum herum scheint sich ein kleiner Glüh-Markt aufgebaut zu haben, jedenfalls sehe ich dort unten kaum jemanden ohne dampfenden Pappbecher in der Hand. Und vor dem Weihnachtsbaum stehen die Leute regelrecht Schlange, um ein Selfie von sich, dem Baum und der Ostsee zu machen. Auf der anderen Seite der Tanne stemmt man sich Huckepack, um noch ein freies Plätzchen für die mitgebrachte Weihnachtskugel am Baum zu finden. Und irgendjemand hat gerade die Weihnachtshits von Wolle Petry aufgelegt.
Wie absolut skurril! Wie absolut herrlich!
Ich weiß nicht, wie lange es diese Weihnachtsbaumtradition am Strand von Dierhagen schon gibt. Mal ist es eine Tanne, mal eine Fichte. Mein erstes Foto ist aus dem Jahr 2016 und selbst das kommt mir viel länger vor als in meiner Erinnerung. Seitdem waren wir jedes Jahr dort. Entweder zwischen den Jahren oder zum Neujahrsspaziergang. Und jedes Jahr versuche ich, auch ein Bild ohne Strandläufer einzufangen, das dann in meinen Lomoherz-Kalender kommt, nämlich als Dezember-Foto. Nun ja … es gibt leichtere Unterfangen. Ein Jahr war es sogar so unmöglich, dass ich abends extra für dieses eine Bild nochmal an den Strand fuhr. Dieses Mal mit Stativ und dicken Handschuhen gewappnet. Und fand den Weihnachtsmeerbaum einsam im Seewind schaukelnd.
Kommt man zu einer gemütlichen Zeit dort an, ist meistens noch die Standbude mit dem Punsch geöffnet, vielleicht sogar der Crêpestand oben auf der Plattform. Oder der Fischbrötchenverkauf. Auch nicht zu ignorieren ist das Büdchen ganz vorne am Anfang der Promenade, wenn man vom Parkplatz kommt. In einem Jahr saßen wir dort am warmen Feuerchen, das vor dem Laden für die Gäste entfacht wurde und haben … Eis geschleckt. Auch am Strand sind meistens ein paar Strandkörbe im Kreis aufgestellt, in denen man sich gemütlich einkuscheln kann. Aber: Kein Jahr gleicht dem anderen. Jedes Weihnachten gibt es etwas Neues zu entdecken. Nur die Idee vom riesigen Weihnachtsbaum in der steifen Meeresbrise bleibt.
Was man unbedingt mitbringen sollte (und was wir die ersten drei Jahre konsequent vergessen haben), ist eine kleine Gabe für den Weihnachtsmeerbaum. Ein Ornament oder ein Wunsch oder ein Licht. Die meisten bringen klassischen Weihnachtsschmuck mit, auf den sie ihre Namen schreiben. Ich habe aber auch schon ganze Wunschzettel, Candy-Armbänder, Fotos, Äpfel, Angelhaken und einen gebogenen Löffel an den Ästen hängen sehen. Am Ende ist er der wahrscheinlich chaotischste Weihnachtsbaum von allen – mit seinem wilden Baumschmuck, der durch die letzten Jahrzehnte reicht, den sporadisch angebrachten Lichterketten und dem abrupten Ende der überladenen Weihnachtsdeko ab 2 Metern Höhe.
Und er ist wunderschön!
Zum Weihnachtsmeerbaum begleiteten mich viele verschiedene Kameras an den Strand. Das sind die Kamera-Film-Kombinationen aus den einzelnen Jahren:
2016
Kiev 60 & Lomo X-Pro 200 (im Cross-Process-Verfahren entwickelt)
2017
Sears KSX & Lomography F²
2018
Hasselblad 500 CM (oben im Bild) & ein abgelaufener Rollfilm
2019
Canon EOS 3000N & Kodak Gold 200 (und nochmal Hassy in der Mitte)
2020
Canon EOS 3000N & Kodak Gold 200 & LomoChrome Metropolis 100-400
2021
Canon A1 & Lomography F²
2022
Canon EOS 3000N & Silbersalz 200T (es war unheimlich neblig an dem Tag)
Die meisten Filme habe ich in meinem Stamm-Labor MeinFilmLab entwickeln und scannen lassen. Es sind aber auch zwei Ausnahmen dabei: Den 2017er Film hat zum Beispiel das Leipziger Labor NimmFilm entwickelt und gescannt und bei den Silbersalzfilmen kaufe ich die Entwicklungs- und Scangutscheine im hauseigenen Labor immer gleich mit ein.
Ein Jahr fällt bei all den analogen Fotos sprichwörtlich aus dem Rahmen: 2016, das erste Jahr am Weihnachtsmeerbaum. In dem Jahr hatte sich noch keine Glühwein- und Strandkorbkultur um ihn herum entwickelt und auf mich wirkte das Ganze noch wie ein kleiner Geheimtipp über lokale Mundpropaganda.
In dem Jahr hatte ich einen X-Pro Film eingelegt, also einen Diafilm, den man hinterher im Cross-Process-Verfahren (X-Pro) entwickeln lässt (das kann man übrigens mit allen Filmen). Was das heißt? Der Film wird nicht in seiner vorgesehenen Chemie entwickelt, sondern in einer anderen. Diafilme bzw. Farbpositivfilme oder “Umkehrfilme” haben zum Beispiel eine andere Entwicklung als “normale” Farbnegativfilme. Und für den Cross-Process-Effekt werden diese Diafilme wie Farbnegativfilme entwickelt. Dadurch entstehen die sehr wilden und bunten Farben, die ihr manchmal in meinen Bildern oder am Weihnachtsmeerbaum 2016 seht.
Ihr wollt mehr über das X-Pro/Cross-Process-Verfahren wissen? In meinem Blog gibt es eine ganze Seite darüber.
Was mich wiederum brennend interessieren würde:
Gibt es bei euch auch Weihnachtsbäume an ungewöhnlichen Orten?
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